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Geschichte des Kempo

Kampf, Meditation, Persönlichkeitsformung

„Sei schrecklich wie der Tiger,
ungestüm wie der Drache!
Im Kampf wirst du den Weg finden,
wirst du das heilige Gesetz erkennen.“
(...aus dem Shaolin-Kanon, zit. nach Dolin, S. 176)

Das Kämpfen hat den Menschen von Anfang an und zu allen Zeiten begleitet; es ist das Ergebnis von konkurrierenden Interessen und dem Willen, den Anderen zu überwinden. Im Laufe der technischen Weiterentwicklung haben sich die Waffen verändert, sind weitgehend effizienter geworden, sodass heute prinzipiell jeder mit entsprechender Ausrüstung eine große Zahl von Gegnern töten kann. Und das ohne jahrelange, entbehrungsreiche Ausbildung, wie es bei den asiatischen Kampfkünsten, beim Kempo, unerlässlich war, womit gleichzeitig eine geistig-ethische und persönlichkeitsstärkende Entwicklung des Übenden einherging. Eben diese Eigenschaft ließ Kempo in den Jahren nach der Erfindung der Feuerwaffen nicht verschwinden; stets wurde es im Wandel der Zeiten bewahrt und weiterentwickelt – wohingegen dies dem europäischen, ritterlichen Schwertkampf beispielsweise nicht in dieser Weise vergönnt war.

Ursprünge und Einflüsse des Kempo

Die Ursprünge des Kempo liegen im Nebel der Geschichte; schwer lassen sich Legenden von Fakten unterscheiden. Doch ist dies für die folgenden Ausführungen von untergeordneter Bedeutung.
Die Stilrichtung Shaolin-Kempo ist bedingt durch die Entwicklung der Kampfkünste in den Kulturkreisen Indien, China, Japan und Korea.
Nach Dolin (1988) ist „Indien die Urheimat der Kampfkünste des Ostens [...]; hier entstand der Prototyp aller Systeme des psychophysiologischen Trainings, die einzigartige Methode zur Vervollkommnung von Körper und Geist, die unter der Bezeichnung Yoga bekannt geworden ist.“ (Dolin, S. 22) Yoga ist fünf Jahrtausende alt. Eine indische Kampfkunst, basierend auf dem Yoga, entstand vor ca. zweieinhalb Jahrtausenden.
Insgesamt lassen sich sechs bedeutende Einflüsse nennen, welche das Wesen des Kempo bestimmt haben:
- das (bereits angesprochene) Yoga mit dem Ziel der geistigen Vervollkommnung bzw. der Einheit von Mensch und Welt,
- die chinesische Dao-Philosophie (z. B. Laozi) mit ihren Ideen der Leere und den Kräften von Yin und Yang (womit die Vorstellung einherging, dass der erleuchtete Geist, der den Sinn des Weges erkannt hat, einen würdigen Ort braucht, also einen gesunden und ‚durchtrainierten‘ Körper),
- die chinesisch-tibetische Medizin mit ihren Theorien über die Lebensenergie Qi (oder Ch’i) und die Vitalpunkte (chin. Dianxue, jap. Jintai kyûsho),
- die Beobachtung von Tieren, um daraus effiziente Kampfverfahren abzuleiten (die Tierstile),
- die Kriegswissenschaft des alten China (z.B. Sunzi),
- schließlich die buddhistische Chan- (bzw. Zen-) Psychotechnik, wonach durch maximale Konzentration erstaunliche Leistungen vollbracht werden konnten (vgl. Dolin, S. 13).
Diese Einflüsse hatten sowohl praktische als auch theoretische Folgen für das Kempo und machten es nicht nur zu einer Schule des Kämpfens, sondern zu einer Schule des Lebens.

Vor Shaolin

Bevor der legendäre indische Chan-Mönch Bodhidharma (chin. Puti Damo, jap. Bodai Daruma) im sechsten Jahrhundert u. Z. nach China in die nördliche Provinz Henan kam und im dortigen Shaolin-Kloster den Grundstein für das Shaolin-Quanfa (oder auch Shaolin quanshu) legte, existierten bereits chinesische Kampfsysteme: Huangdi, der Gelbe Kaiser (um 2600 v. u. Z.), führte eine gewonnene Schlacht auf das Kampfsystem Juedi (Chiao ti) zurück, einer rituellen, kämpferischen Bewegungsform, die das Stoßen mit Hörnern beinhaltete. Im 12. Jh. v. u. Z. war ein waffenloser Ringkampf namens Xiangpu weit verbreitet, aus welchem im Laufe der Zeit ein Kampfsystem mit der Faust (Quan) hervorging. Solcherlei Kampfarten (bspw. Jiji und Goti) wurden zur Ausbildung von Soldaten verwendet (vgl. Lind, S. 490).
Im 2. Jh. u. Z. entwickelte der Arzt Hua Tuo eine daoistisch geprägte Bewegungsform, das „Spiel der fünf Tiere“ (chin. Wuqinxi; Tiger, Hirsch, Bär, Affe und Kranich) (Lind, S. 658), welche jedoch hauptsächlich therapeutische Funktionen hatte, nämlich die Stärkung und Lenkung des Qi (Qigong). Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass sowohl die inneren (Neijia; bspw. Taijiquan oder Baguaquan) als auch die äußeren Quanfa-Stile (Waijia; bspw. Shaolin-Quanfa, später in Japan Karate, in Korea Taekwondo) letztlich auf den Bewegungsübungen des Hua Tuo basieren. In dieselbe Zeit fällt die Entwicklung des Changquan (Kampfstil der langen Faust), eines körperbetonten Kampfsystems, welches keine so ausgeprägte Lebensschule wurde wie die Shaolin-Kampfmethode, die ihrerseits eine effiziente Kampftechnik mit Atem- und Psychotechniken sowie mit religiös-ethischen Werten verband und so zur Kampfkunst wurde (vgl. Lind, S. 490).

Das Shaolin-Kloster

„Sei mutig!
Vergiß es, dein allzu vergängliches Leben!
Mit erleuchteter Seele
geh auf die Berge der Schwerter!“
(...aus dem Shaolin-Kanon, zit. nach Dolin, S. 192)

Obwohl Shaolin-Quanfa ältere Wurzeln hat, wird seine Entstehung Bodhidharma zugeschrieben. Mit dem Ziel, die Verbreitung des Chan- (Zen-) Buddhismus voranzutreiben, ließ er sich um das Jahr 520 u. Z. im Shaolin-Kloster nieder, welches bereits im 3. Jh. erbaut wurde und in den Jahren seines Wirkens zahlreiche ‚Ableger‘ in China, aber auch in Korea, in Vietnam und auf Okinawa entstehen ließ (vgl. Dolin, S. 156). Die Shaolin-Mönche hatten sich in den Jahrhunderten zuvor durchaus mit Methoden der Selbstverteidigung beschäftigt – chinesische Systeme waren ja vorhanden –, doch waren sie in der Zeit, zu der Damo nach Shaolin kam, in Vergessenheit geraten. Der psychophysische Zustand der Mönche war so schlecht, dass sie Räuberbanden ausgeliefert waren und sogar manchmal beim Meditieren einschliefen. Für Damo stand fest, dass für die Erleuchtung bzw. für das Erkennen des Dao nicht nur der Geist, sondern auch der Körper gesund und für das religiöse Ziel würdig sein musste. Und so ersann er, inspiriert vom indischen Yoga und den chinesischen Qigong-Übungen, eine Methode zur Stärkung von Körper und Geist: Es entstand ein System von Kampfübungen, „Shiba Luohanshou (18 Hände der Buddha-Schüler)“ (Lind, S. 490), die Grundlage der späteren Waijia. In jenen Übungen fanden, so Dolin, „die charakteristischen Besonderheiten der kämpferischen Chan-Praxis ihre vollkommene Verkörperung: Konzentration, Entspannung, Kontrolle der Atmung, fließende und unmerkliche Übergänge, höchste Bewegungskoordination, unablässige Kontrolle über das Vorgehen des Gegners, große Exaktheit bei der Ausführung des Verfahrens und Anpassen an den spezifischen Kampfrhythmus.“ (Dolin, S. 159)
Kaiser Gao Zu, Begründer der Tang-Dynastie (6. – 9. Jh. u. Z.), gelangte mit Hilfe einer 100 Mann starken Klosterabteilung aus Shaolin an die Macht, da die Mönche im Nahkampf nahezu unbesiegbar waren, und dies nicht nur aufgrund ihrer Kampfmethode, sondern auch wegen ihrer Todesverachtung.
Der Ruhm Shaolins vergrößerte sich. In den folgenden Jahrhunderten ersannen die Mönche Formenläufe (chin. Lu oder Dao, jap. Kata) und integrierten infolge anhaltender Angriffe immer mehr kämpferische Elemente in ihre Kunst. Während der Ming-Dynastie bestimmte das Shaolin-Kloster die Politik in China mit; das Shaolin’sche Quanfa expandierte über die Grenzen des Landes hinaus; auf Okinawa beispielsweise entstand der Prototyp des heutigen Karate (genannt Tôde). Diverse politische Machtkämpfe brachten es mit sich, dass Shaolin sich aus der Politik zurückzog und zudem vom Untergang bedroht wurde. Weltliche Kampfkunstschulen begannen sich auszubreiten, und ihre Meister konnten erfolgreich mit den Mönchen aus Shaolin konkurrieren (vgl. Dolin, S. 177f.).
Im 16. Jh. setzte ein Wiederaufleben der Shaolin’schen Kampftradition ein; gleichzeitig erfuhr sie eine beträchtliche Erweiterung. In diesem Zusammenhang sind die Namen von drei Meistern zu nennen: Jiao (Que) Yuan, Li Cheng und Bai Yu Feng. Jiao Yuan lernte die Kampfkunst im Shaolin-Kloster; als Shifu (Meister/Lehrer) verbesserte er die Shiba Luohanshou, bis es schließlich 72 Nahkampfverfahren gab. Dennoch war er unzufrieden mit dem neuen System, und so reiste er durch das Land, um Kampfverfahren anderer Meister zu kennen zu lernen und in sein System zu integrieren. Ein alter Meister der Akupunktur, Li Cheng, brachte nun das Wissen um die negative Stimulation von Vitalpunkten in die Shaolin-Technik ein, und Bai Yu Feng ersann Verfahren und Taktiken, um im Kampf die Nähe herzustellen, damit man die negative Vitalpunktstimulation einsetzen konnte. Dadurch wurde das Shaolin-Quanfa mit medizinischem Wissen erweitert: Durch Techniken, die man später auf Okinawa Kihon nannte, wurde eine positive, gesundheitsfördernde Stimulation der Vitalpunkte dessen herbeigeführt, der Kihon ausführte; auf der anderen Seite diente das Üben von Kihon der Negativstimulation von Vitalpunkten beim Gegner. So entstand durch Beteiligung dieser drei Meister im Kloster zu Shaolin ein neues Quanfa-System. Um dieses zu vermitteln, rekurrierten sie auf die alte Tradition der daoistischen „Tier-Spiele“, der Wuqinxi. Es entstanden 170 Aktionen, die sich auf das Kampfverhalten von fünf Tieren bezogen: Kranich (He), Leopard (Bao), Schlange (She), Tiger (Hu) und Drache (Long) (genannt chin. Wuxingxi). Mit der Vereinigung von Kampfsystem, Medizin und geistig-ethischen Werten wurde die ursprünglich rohe chinesische Kampfkunst zu einer hohen Kunst der Sinnsuche und Sinngebung im Leben (vgl. Lind, S. 493).
Was waren die Ziele der Ausbildung in Shaolin? – „Das jahrelange psychophysische Training in den Mauern von Shaolin war darauf gerichtet, fünf ideale Kampfeigenschaften auszubilden:
1. erhöhte Sensibilität,
2. Geradheit und Aufrichtigkeit,
3. Gelassenheit,
4. Gewandheit,
5. Fähigkeit zu kombinatorischem Denken.“ (Dolin, S. 195)
Bei Zwischen- und Abschlussprüfungen wurden diese Eigenschaften geprüft. Trainiert wurden Kampftechniken, kombiniert mit der Entwicklung extrasensorischer Fähigkeiten (mit geschlossenen Augen auf Schläge reagieren); moralische Eigenschaften wie Mut und Hingabe (an die Pflichterfüllung) musste man als Shaolin-Mönch ebenso an den Tag legen wie eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber Schmerz, Hunger, Durst und Erniedrigungen. Zudem wurden Gewandheit und Bewegungsökonomie geübt, vornehmlich geschah dies bei den Formenläufen (Sifats, Katas). Und wie beim Schach musste man lernen, viele Aktionen des Gegners zu antizipieren. – Hier wird offensichtlich, dass nur Mönche, die körperlich gut trainiert und intelligent waren, die Ausbildung erfolgreich absolvieren konnten, zumal sie sich mit paradoxen Gedankenkonstrukten befassen und (kriegs-)philosophische Standardwerke, wie beispielsweise das von Sunzi, auswendig lernen mussten. Bevor sich der Anwärter Shifu nennen durfte, musste er eine äußerst schwierige Prüfung bestehen, bei der Todesfälle nicht ausgeschlossen waren: Selbstbeherrschung und intellektuelle Fähigkeiten wurden in der „Kammer der Freude und der Trauer“ geprüft, dem folgte eine Sichtung der körperlichen Möglichkeiten ([Schnell-]Kraftfähigkeit) des Prüflings in der „Kammer der Macht“. In der „Kammer der Finsternis“ war der ‚sechste Sinn´ gefragt, denn der Mönch musste in der Dunkelheit einem geworfenen Messer ausweichen und anderen Gefahren entgehen. In der „Kammer der Rache“ musste sich der zu Prüfende gegen zehn mit Stöcken bewaffneten Mönchen verteidigen. Der letzte Prüfungsabschnitt war der härteste und gefährlichste: der „Korridor des Todes“ – eine Art Galerie, in welcher 108 menschenähnliche, bewaffnete Puppen Angriffe tätigten, was möglich war durch einen komplizierten Federmechanismus. Hatte der Mönch auch dies bestanden, wartete die letzte Herausforderung: eine glühende, schwere Urne, die er mit den Unterarmen wegschieben musste. Dadurch wurden ihm ein Drache und ein Tiger in die Unterarme eingebrannt. Jemand, der diese Zeichen hatte, wurde in der Bevölkerung hoch geachtet (vgl. Dolin, S. 197f.).
In der zweiten Hälfte des 17. Jh. verbrannte das henansche Shaolin-Kloster infolge eines Mongolenangriffes, und die Mönche mussten fliehen.
Einige von ihnen gründeten eigene Stile, die auf dem Shaolin’schen System aufbauten. Zahlreiche weltliche Schulen wuchsen auf der fruchtbaren Grundlage des Shaolin-Quanfa. Die äußeren (harten) Stile waren zen-buddhistisch geprägt und teilten sich nach der Mandschu-Invasion (nach der Ming-Dynastie kam 1644 die Qing-Dynastie an die Macht) in nördliche Schulen, die mit sich mit den neuen Verhältnissen arrangierten, und in südliche Schulen, die rebellierten. Was stilistische Unterschiede betrifft, so sprechen die Bezeichnungen für sich: „Bein des Nordens“ und „Faust des Südens“. – Später als die äußeren (harten) leiteten sich die inneren (weichen) Stile aus dem Shaolin-Quanfa ab und beziehen sich hinsichtlich ihrer Philosophie auf den chinesischen Daoismus. Obwohl viele traditionelle Kampfkunstmeister diese Trennung in Waijia und Neijia als falsch betrachten, ist sie außerhalb Chinas sehr verbreitet (vgl. Lind, S. 493).

Der Weg nach Japan

Schon seit der Han-Dynastie (um 200 u. v. Z. – um 200 u. Z.) herrschte zwischen China und Japan ein reger Kulturaustausch; und auch Quanfa gelangte schließlich nach Japan, wo das komplexe System – die klassischen Komponenten des Quanfa waren Da (Schlagen), Ti (Treten), Shuai (Ringen) und Qinna (Hebeln) – oft in seine Bestandteile zerlegt wurde und diese dann als eigenständige Systeme weiterentwickelt wurden. So entstanden aus den Komponenten des Schlagens und Tretens schließlich die Stile des Karate, aus der Komponente des Ringens das Judo und aus der Komponente des Hebelns und Immobilisierens das System des Jûjutsu (vgl. Lind, S. 489f.).
Hierbei fällt dem alten chinesischen Dokument „Bubishi“ (jap. ‚Krieg, Wissen, Geist‘) eine grundlegende Rolle zu: Es dokumentiert die erste Beeinflussung des alten okinawanischen Kampfsystems Tôde durch das chinesische Quanfa und thematisiert diverse Shaolin-Stile, so z.B. Baihequan, Hequan und Luohanquan. Ebenso dürfen wir annehmen, dass Sunzis kriegstheoretische Abhandlung die Kriegs- bzw. Kampfkünste Japans (Bujutsu bzw. Budo) beeinflusste.
Während im 16. Jh. das Shaolin’sche Quanfa durch Jiao Yuen, Li Cheng und Bai Yu Feng seine Erweiterung erfuhr (siehe oben), lebte in Japan der berühmte Schwertkämpfer und Künstler Miyamoto Musashi. In seinem „Buch der fünf Ringe“ (jap. „Gorin-no-sho“) stellt er die Grundlagen seiner Schwertkampfkunst vor und gibt Hinweise zu Taktik und Strategie, die sich unschwer auf das (ganze) Leben übertragen lassen. – Der Zen-Mönch Takuan Soho (einer Legende nach befreundet mit Musashi) erläutert in seinen Werken den Zusammenhang zwischen Zen und Schwert: „Ken Zen ichi.“ (Sinngem.: „Schwertkampf und Zen sind eine Sache.“; Takuan, zit. nach Lind, S. 580) – Weiterhin bietet das Werk „Hagakure“ (jap. ‚Verborgene Blätter‘) von Yamamoto Tsunetomo einen eindrucksvollen Einblick in das Bushido (jap. ‚Weg des Kriegers‘), der Ethik der Samurai.
Im Laufe der Geschichte wurden aus den Bujutsu-Systemen (Kriegskünste) die weniger martialischen Kampfkünste (Budo), welche wie das Shaolin-Quanfa eine Entwicklungsperspektive für den Übenden beinhalteten, die auf einer zen-buddhistisch geprägten Weltanschauung basiert(e).

Werte, Philosophie, Ziele

Dass Kempo nicht nur zur körperlichen Stärkung, sondern auch zur geistigen Entwicklung beitrug bzw. beitragen sollte, zeigt sich bei Betrachtung der theoretischen Abhandlungen über die Kampfkünste sowie der moralischen Kodexe, die in der Blütezeit des Kempo entstanden.
Das Verhalten der Shaolin-Mönche wurde von den sog. „Zehn Geboten des Jiao Yuan“ bestimmt; die meisten haben ihre Bedeutung bis in die Moderne erhalten. Sie lauten:
„1. Wer das Quanshu studiert, muß sich mit Eifer und hartnäckig damit beschäftigen, und er darf keinerlei Ablenkungen durch andere Dinge zulassen.
2. Die Anwendung des Quanshu ist ausschließlich zum Zwecke der Selbstverteidigung erlaubt.
3. Der Lernende muß sich seinem Lehrer und seinen Kameraden gegenüber stets ehrerbietig und bescheiden erweisen, er muß ihnen immer Hochachtung entgegenbringen.
4. Der Lernende muß gegenüber seinen Kameraden immer höflich, ehrlich und wohlwollend sein.
5. Wer das Quanshu studiert, ist verpflichtet, sich des Wunsches zu enthalten, in der Öffentlichkeit seine Kenntnisse preiszugeben oder irgendeiner Aufforderung dazu Folge zu leisten.
6. Wer das Quanshu studiert, darf auf keinen Fall als erster eine Schlägerei beginnen.
7. Wer das Quanshu studiert, darf keinen Wein trinken und kein Fleisch essen.
8. Der Lernende muß sich des Geschlechtsverkehrs enthalten.
9. Man darf das Quanshu nicht fremde Menschen lehren, die keine echten Buddhisten sind, um nicht sich selbst und der eigenen Sache Schaden zuzufügen. Man soll es nur Menschen lehren, die ein gutes Herz haben und aufrichtige Dankbarkeit zeigen.
10. Wer das Quanshu studiert, muß Bosheit, Gier, Neid und Prahlerei vermeiden.“ (Dolin, S. 184)
Die Gebote 7 – 9 sind in heutiger Zeit und in unserer Weltgegend (für das Betreiben einer Kampfkunst) überflüssig geworden; über Gebot 5 kann man sich uneinig sein, aber alle übrigen haben auch heute und bei uns noch, wie ich meine, ihre uneingeschränkte Berechtigung.

Es erscheint auf den ersten Blick unverständlich, dass sich religiöse Menschen wie Takuan und Damo mit todbringenden Kampfsystemen beschäftigten und dazu noch Ratschläge für einen besseren und effizienteren Kampf machten. Man muss sich deshalb immer wieder bewusst machen, dass in den buddhistischen Vorstellungen der Weg eines Kriegers ein geeigneter Weg war, die Selbstvervollkommnung zu erreichen: „Natürlich besteht für den Buddhisten das Ziel des irdischen Daseins darin, den Kreis der Sansaras (des irdischen Daseins, den Ort der Leiden) zu durchbrechen und das Nirwana (den Ort der Ruhe) durch Selbstvervollkommnung und Zügelung der Leidenschaften zu erreichen. Es gibt nicht nur einen Weg der Selbstvervollkommnung. In jedem Falle dienen jedoch moralische Sauberkeit, Ausrottung der unheilvollen Versuchungen in der Seele und Begreifen der Unwirklichkeit der Welt als Ausgangspunkte. Dies kann der Weg eines Mönches sein, der Weg eines Einsiedlers, der Weg eines Weisen oder der Weg eines Kriegers.“ (Dolin, S. 149)

Gichin Funakoshi, der Begründer des modernen Karate-Do, betont bei der Kampfkunst die Höflichkeit und ihr defensives Wesen; der erste Leitsatz seiner 20 Karate-Regeln lautet: „Karate dô wa rei ni hajimari, rei ni owaru koto wo wasuruna – Karate beginnt mit Respekt und endet mit Respekt.“ Und der zweite (bekanntere) heißt: „Karate ni sente nashi – Im Karate macht man nicht die erste Bewegung.“ (Lind, S. 559)
Kempo bietet einen Lebensweg („Do“), der es dem, der den Weg beschreitet, ermöglicht, über die Entwicklung kämpferischer Fertigkeiten hinaus eine starke und ausgeglichene Persönlichkeit bzw. wünschenswerte Charaktereigenschaften aufzubauen und letztendlich laut der buddhistischen Lehre umfassende Erkenntnis und Gelangen ins Nirwana zu erreichen.
Die zentralen, geistigen Säulen des Kempo lauten also:
- Selbstbetrachtung (Reflexion),
- Selbstbeherrschung/Disziplin,
- Selbstvergessen und intuitives Erkennen,
- Ruhe und Gelassenheit (auch angesichts des eigenen Todes).

In die Moderne

Nach dem (bereits erwähnten) großen Brand erlitt das Shaolin-Kloster in den folgenden Jahrhunderten zwei weitere große Niederlagen (1723 und 1928), aber stets wurde es wieder aufgebaut. Und heute besteht es noch immer (und setzt mit mehr oder minder großem Erfolg die alten Traditionen fort). Auch nach der Eroberung Chinas durch die Mandschu blieben die Shaolin’schen Kempo-Traditionen lebendig; so auch in Geheimorganisationen wie beispielsweise den Triaden, heute ein Verbrechersyndikat. Ende des 19. Jh. wurde der sog. Boxeraufstand mithilfe der Kolonialmacht England nieder geworfen; die Zeit, in der Kempo als Kriegmittel taugte, war nunmehr vorbei. Man orientierte sich fortan an westlichen Vorbildern; und Pistolen und Gewehre kamen in Mode.
1911 fiel die Qing-Dynastie. Unter der neuen Regierung wurden erstmals in China alle Kampfkünste unter der Bezeichnung ‚Guoshu‘ (ehemals ‚Wushu‘) zusammengeführt.
Um 1930 kamen die japanischen Kampfkünste – das vom chin. Quanfa beeinflusste okinawanische Kampfsystem war um 1915 nach Japan gelangt – in den Westen. Drei wichtige Namen in Bezug auf die japanischen Budo, welches in der Tradition des Bushido steht, seien an dieser Stelle angesprochen: Gichin Funakoshi (Karate-Do), Kano Jigoro (Judo) und Ueshiba Morihei (Aikido).
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam China unter kommunistische Kontrolle, und sämtliche buddhistische Aktivitäten wurden verboten, auch die Kampfkünste. Später bemühte sich der Staat um deren Neubelebung, jedoch war sehr viel Wissen verloren gegangen. Um 1960, also rund 30 Jahre später als die japanischen Kampfkünste, gelangte im Zuge der ‚Öffnung‘ des Landes (gemeint sind innen- und außenpolit. Veränderungen sowie Orientierung am Westen und dessen Wertvorstellungen) das chin. Kempo unter der Bezeichnung ‚Kungfu‘ in die westlichen Länder und erlangte vorwiegend durch unzählige Actionfilme eine fragwürdige Bekanntheit (vgl. Lind, S. 493f.).

Literatur:
Dolin, A. (1988): Kempo. Die Kunst des Kampfes. Berlin: Sportverlag.
Lind, W. (2001): Das Lexikon der Kampfkünste. Berlin: Sportverlag.
Takuan, S. (2000): Zen in der Kunst des kampflosen Kampfes. Hrsg. v. W. S. Wilson. Bern: Otto Wilhelm Barth Verlag.